REISENDER STELLT SICH VOR
DONAUESCHINGER POSSENSCHERZ Reisender: Nennen Sie Ihre Quellen! In einem Film behauptet jemand, New York sei das Herz der Welt, darauf entgegnet man ihm empört, die Welt habe gar kein Herz (und ferner, beim nächsten Mal solle er nicht ohne laufende Nummer hereinkommen, denn das alles spielt in einem berühmten Budapester Dampfbad). Das Herz der Donau ist Ulm. Dies behauptet Herr Ingenier Neweklowsky, “der Hegel der oberen Donau“, in seinem erschöpfend gründlichen Buch. Er spricht allerdings, um seine Emotionen zu verbergen, lieber von Mittelpunkt, Zentrum beziehungsweis an einer Stelle (fast möchte man einen Druckfehler vermuten) von einem “gigantischen Schwerpunkt“ und veröffentlicht auf seine akkurate Art interessante Berechnungen zur Theorie (“nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie“), die nicht nur überzeugend, sondern auch leise, schöne Beispiele des nicht seltenen Hand-in-Hand von deutscher Pedanterie und legerem Wahnsinn sind. Neweklowsky kehrt in seinem gedanklichen Experiment die Donau einfach um, indem er die Verteilung der Wassermenge entgegengesetzt zur Wirklichhkeit annimmt, und dann zeigen die Berechnungen, daß der Schwerpunkt des so gewichteten Gebildes Ulm ist, um genauer zu sein, die Mündung der Iller. Es zeugt von der Redlichkeit des unermüdlichen Ingenieurs, wenn er sich fragt, ob wir nicht jegliches Ergebnis mit der gleichen Freude aufgenommen hätten, denn wohin der Schwerpunkt auch fällt, er fällt gerade dahin. Es ist eine grundlegende Frage, daß wir die Donau – die Wahrheit? nebbich! – für eine Art Entdeckung halten (aletheia), die Entdeckung der Ordnung, daß also die Donau scheinbar chaotisch ist, aber auf einer Ordung beruht, die wir erkennen (werden), weil wir sie erkennen können, oder im Gegenteil, es gibt keine solche Ordnung, es gibt Strudel, Gischt und Strömung, und die Ordnung – denn von etwas sprechen wir letztlich doch, und wenn wir in Wien auf ein Tragflächenboot steigen, dann können wir in Budapest ankommen —, die Ordnung entdecken wir nicht, sondern wir haben sie hineingetan, dann haben wir sie vergessen, und wenn wir jetzt das Tragflächenboot tuten hören, zieht sich unser Mund bis zu den Ohren breit. Wiederentdeckung statt Entdeckung. Flusser bemerkt zutreffend, Kopernikus sei nicht wahrer als Ptolemäos “ich, der die Buchstaben o, r, d, n, u, n, g ausprach. Die Verbindung des Gesetzes vom freien Fall mit der geometrischen Reihe (eins ist schöner als das andere, denken wie nur an den vom Ulmer Münster Stürzenden oder an 1, 4, 9) ist kein Wunder, sondern eine Kategorie unseres Hirns; unser Hirn erkennt eine Kategorie unseres Hirns. Das kann man nichtsdestominder als Wunder bezeichnen, die Naturgesetze sind nicht vom Herrn, nicht von den Engeln, nicht von der Natur – vom Menschen! Nur er pusselt hier herum. Sehr bezeichnend ist die foglende, Legende gewordene Geschichte, die uns Neweklowsky als wahren Chaosforscher hinstellt, eigentlich auf die Janusköpfigkeit des Goetheschen Mehr Licht! – Mehr nicht! anspielend; auf dem Sterbebett, nach einem Leben mit der Donau, soll der Ingenieur gerufen haben: Wer ist es... wer ist es, der zwischen Donau und Nicht-Donau unterscheiden könnte?! Von diesem Satz an bis zum Augenblick seines Todes, siebzehn Studen lang, brüllte er so, daß seine Leute alle Fensterläden schlossen. Aber Ulm hörte es. Jetzt stirbt die Donau, sagten sie und nickten. [...] Wien ist keine Donau-Stadt. Wien schätzt die Donau nicht, bemerkt sie gerade nur, bittet zum Vorzeigen den Kanal herein und plätschert ein wenig in der Alten Donau. Vielleicht liegt es auch an dieser Unaufmerksamkeit, daß Reisender – vergessen wir nicht: Donau-Reisender! – hier angekommen, ein wenig über sein Leben nachdenkt. Er setzt sich in einen Park, einen Wiener Park, die Parks sind die Zauberspiegel Wiens, in denen die Stadt sich betrachtet, dort sind alle auf einmall Schnitzler und Trakl, “Rokoko-Genußsucht“ und “trocknes, braunes Todeslaub des Herbstes“ ,Tote spazieren auf den gepflegten Wegen, in Wien ist man leichter tot, im hinteren Trakt des Burggartens offen mit Gräsern und Pulvern mauschelnde junge Leute, alte Herren mit Krawatten, trippelnde vornehme Damen, Bilder irgendwoher, “Ansichtskarten, die niemand verschickt“, Wien ist eine Gegend reich an Toten, dies hat hier eine hübsche Bagatelltradition, das Lebendig-Totsein. Den Reisenden befällt heftiges und lächerliches Selbstmitleid. [...] Wie mein Land unter den Russen, so klagte und knirschte der Kies unter meinen Sohlen – und blieb. Du bist der und der, und auf diesen Kies baue ich und so weiter. Donaukies, scherzte ich bei mir. Das Schloß der Fürstenbergs gleicht einem beleidigten, abendlichen Gesicht. An der Quelle wagte sich mein Blick langsam zu dem ernsten Schild: Hier entspringt die Donau. Also hier. Entspringt. Die Donau. Welch eine Sekunde! Der Anfang, Origo! Ob jeder Anfang rein ist? Oder... Aber ich wage es nicht auszusprechen. Ach, was machte es mir aus, daß das Wasser aussah wie in einer abgestandene Schüssel, einer provinziellen Fontana di Trevi, wo man Kleingeld hineinschmeißt und dabei weder an seine Wünsche noch an Himmel und Erde denkt, sondern nur daran, wie die Deutsche Mark jetzt zum Dollar steht...[...] Vor lauter Donau und lauter Mitteleuropa-Gebetsgemurmel wurde mir – nein, das ist kein gutes Wort: übel, sagen wir lieber, es machte mich wütend. (In patriotischen Angelegenheiten muß eben doch Thomas Bernhard maßgebend sein, nur wäre, was Ungarn betrifft, der Hochgebirgstrottel in Tiefebenetrottel abzuändern.) Diese Unmenge an Donaugedanken, Donauethos, Donauvergangenheit, Donaugeschichte, Donauschmerz, Donautragödie, Donauwürde, Donaugegenwart, Donauzukunft! Wovon reden wir? All dies Fließen ist verdächtig geworden. Donaunichts, Donauhaß, Donaugestank, Donauanarchie, Donauprovinzialismus, Donaudonau. Arme Gertrude Stein, wenn sie das hätte erleben können: die Donau ist die Donau ist die Donau... Auf die Frage, was eine Fußballmannschaft zusammenhält, antwortet ein alberner Witz, einerseits der Alkohol, andererseits der unverbrüchliche Haß gegen den Trainer. Das. Das und nicht mehr war Mitteleuropa. Zumindest wurde Kunderas Definition nur von der Sowjetunion am Leben erhalten. Wie sie mir doch seinerzeit gefiel! Oder wie unverständig und unreif mir Handke vorkam, als er Mitteleuropa nur einen Begriff der Meteorologie nannte. Dabei hat er so recht! Und es wäre durchaus keine Geringschätzung des Gegenstands. Die Natur, auf die man sich berufen kann, ist nichts Geringes. Man versuche, mit einem aus Murmansk über die Kälte zu sprechen. Mit einem Inder über die Wärme oder den Regen. Es ist kalt, es regnet, ein Unwetter tobt, der Inn steigt, ich weiß, wovon wir reden. Wolken, Sterne, Winde und Stürme, Wasserstand, Niederschlagsmenge, Volkserfahrungen (Matthias bricht das Eis, Maienregen, Siebenschläfer). Zusammenfassend: Wir sind Nachbarn. Uns blickt dasselbe Pferd ins Fenster, wir schauen auf denselben Garten, wir können uns darauf berufen, daß wir Hagelschauer und Hochwässer, die Zacken der Blitze, den Horizont im August, die Nebelfetzen, die morgendliche Glätte, eine zauberkräftige Frau, einen engelsgleichen Knaben, einen unerschütterlichen Mann, die großen, gemeinsamen, orgiastischen Mißverständnisse kennen. [...]
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Sub titulo “hoher Himmel, enges Tal“ lese ich, welche Skandale den Buchmessenauftritten vorangehen, und warum fährt dieser nach Frankfurt, warum fähr jener nicht, warum sind so viele, warum nicht weniger, warum nicht mehr, es gibt Absagen, es gibt Beleidigte und Anklagen, selbst das Parlament, das eidgenössische, beschäftigt sich mit dem Fall, und es gibt viel Gestöhne über die helvetische Enge der Kultur (Wieviel Mittelmäßigkeit darf sich eine Mittelmäßigkeit erlauben?). Soetwas wäre bei uns einfach unvorstellbar. Undenkbar. Die Vorbereitungen ruhen auf den Säulen des intellektuellen Friedens und der Intelligenz. Magyarische Enge der Kultur? Das kommt wirklich nicht in Frage. Eine Literatur, welche auch immer, wo und zu welcher Zeit auch immer, ist, sobald wir über sie sprechen, immer “wahnsinnig reich und spannend“, Ende des Zitats. Natürlich ist auch unsere Literatur so. Doch davon werde ich jetzt nicht reden. Statt dessen rede ich von der ungarischen Sprache. Im Ungarischen – wie auch im Italienischen oder Spanischen – gibt es ein einziges Wort für Sprache und Zunge. Wer also ein Mann/Mensch der Sprache ist, ist auch ein Mann/Mensch der Zunge, somit ist er Diener dieser doppelten Sinnlichkeit. Wein und Literatur. Zu behaupten, daß die Literatur an der Buchmesse eine zweitrangige Rolle spielt, wäre übertrieben. Doch schwere Erfahrungen über lange Jahre hinweg zeigen, daß niemand gerne zum Stand eines Verlages geht, an dem es miese Weine gibt. Der Schatten des Mißtrauens fällt dort nämlich auch auf die Bücher. Und wenn ich jetzt dennoch etwas von der ungarischen Literatur sagen will – was ich nicht will –, muß ich nur einen Weinführer in die Hand nehmen, ich kann ihn praktisch beinahe an jeder beliebigen Stelle aufschlagen – und schon werde ich lesen können, wie unsere Literatur beschaffen ist. (aus Rohály‘s Weinführer:) vielschichtiges Bukett – konzentriert – neben den gebietstypischen Aromen feine Frucht und eindeutig im Holzfass ausgebaut (Holzfass im metaphorischen Sinn- das wäre dasselbe wie früher das “enge Tal“) – fruchtig – mineralisch – gerbstoffreich – von ihrer Frische ist so viel geblieben, wie es in Tokaj überhaupt möglich ist. Langer Abgang. Mein Abgang ist aber kurz. Der Wein ist hier, die Bücher kommen, und Judy Winter weiß auch, wo die Blumen sind.
*Der Text der Lesung besteht aus einer Aneinanderreihung von Zitaten aus dem Roman "DONAU ABWÄRTS",Residenz Verlag, 1992
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