BÜCHER UND BUCHWESEN IN UNGARN

on den Anfängen bis zur kommunistischen Machtübernahme 1948

Die ersten Bücher gelangten nach Ungarn durch die Vermittlung reisender Mönche und Kirchenleute aus dem Rheingebiet und aus Frankreich, unmittelbar nachdem die ungarischen Stämme das Karpatenbecken erobert und sich hier niedergelassen hatten. Die meisten der frühen Bücher sind im Laufe des Mongolensturmes im Jahre 1241 und während anderer Kriege vernichtet worden bzw. sind, da es sich bei ihnen in erster Linie um liturgische Bücher handelte, durch den konstanten Gebrauch zerfallen. Derzeit befinden sich etwa 1200 mittelalterliche Kodizes in Ungarn, aber nur 190 davon sind ungarischen Ursprungs, während die meisten im Laufe des 18. und des 19. Jahrhunderts gesammelt worden sind. Von den reich bebilderten Manuskripten aus der Zeit vor 1526 - als nämlich die ottomanischen Armeen den größten Teil des Landes besetzten - blieben nur etwa ein halbes Prozent erhalten. Trotzdem existierte hier eine mittelalterliche Buchkultur, vor allem am Königshof, in den Klöstern und den Bischofssitzen. Im 14. und 15. Jahrhundert hatte die ungarische Buchkultur den Standard des damaligen Europa erreicht.

Die Renaissance brachte für die intellektuellen Beschäftigungen einen großen Aufschwung mit sich, ihren Zenit erreichten sie zur Zeit der Regierung von König Matthias Corvinus (Mátyás), einem der größten Büchersammler seiner Zeit. Seine Bibliotheca Corviniana - im Umfang allein übertroffen von der Bibliotheca Vaticana - war in ganz Europa bekannt und hoch angesehen. Man schätzt, daß der Königspalast in Buda etwa 3.000 wunderschön entworfene und reich bebilderte Manuskripte und Kodizes beherbergte, unter ihnen jene ausdrücklich für den König angefertigte (die Corvinas) und jene in der privaten Sammlung von Königin Beatrix.

Leider wurde diese Bibliothek nach dem Tod von König Matthias auseinandergetragen. Seine Nachfolger Wladislaus (Ulászló) II und Ludwig (Lajos) II vergaben die wertvollsten Stücke an ausländische Gesandte fremder Höfe und an Humanisten und Wissenschaftler aus allen Teilen Europas - doch auf diese Weise konnten zumindest viele von diesen Büchern überleben. Was die Bibliotheca Corviniana endgültig zerstörte, war die türkische Invasion unter Suleiman dem Prächtigen. Der ottomanische Herrscher ließ die Sammlung derart gründlich plündern, daß nur 22 Kodizes aus dieser Periode noch heute an alter Stelle zu finden sind. Gegenwärtig sind 215 Corvinas in 49 Bibliotheken von 43 Städten in 16 Ländern weltweit verstreut.

Zwei Jahrzehnte nach der Erfindung der Druckerpresse war Ungarn das sechste Land in der ganzen Welt, das ein eigenes Druckereiwesen etablierte. Im Jahre 1472 kam der deutsche Mönch Andreas Hess (András Hess) nach Buda und er druckte mit Unterstützung des königlichen Vizekanzlers mit den schönen, aus Rom mitgebrachten lateinischen Lettern das erste Buch im Land mit dem Titel Chronica Hungarorum. Der Handel mit Büchern und mit Gedrucktem war von da an ungebrochen in Ungarn, und bereits nach nur einem halben Jahrhundert nach Hess gab es im Land mehrere Geschäfte, die unter dem Schutz adliger Häuser ihre Tätigkeit ausübten. Das gedruckte Buch gehörte nunmehr in Ungarn nicht mehr zu den Raritäten.

Das Jahr 1590 stellt die nächste Stufe dar: in diesem Jahr wurde die erste vollständige Übersetzung der Bibel in drei dickleibigen Bänden auf Initiative des Übersetzers hin gedruckt. Ein lutherischer Kirchenmann, Gáspár Károli, wurde so zum ersten Herausgeber in ungarischer Sprache und zweifellos auch der erste Herausgeber, der einen Bestseller herausbrachte. Die schnelle Verbreitung der Reformation brachte einen großen Bedarf an preiswerten und weithin zugänglichen Büchern mit sich, was wiederum ein Auskommen für eine Zahl von reisenden Druckern und Herausgebern im Laufe dieses Jahrhunderts bedeutete. Zwischen 1571 und 1600 wurden insgesamt 605 Titel veröffentlicht, sowohl in lateinischer als auch in ungarischer Sprache.

Zum Anfang des 17. Jahrhunderts waren lokal gedruckte Bücher - zwar von eher schwacher Qualität, so sehr sie auch in ihrer Aufmachung die von Kaufleuten importierten italienischen und deutschen Bücher nachzuahmen versuchten - keine Seltenheit mehr und auch nicht teuer. Populäre Kalender, so etwa Kompendien nützlichen Wissens über Wetter und Landwirtschaft, mit Hinweisen zur Hauswirtschaft, mit simplen Geschichten und Beschreibungen damaliger Ereignisse (Bestseller der folgenden zweiundhalb Jahrhunderte) konnten für weniger als der Preis von zwei Pfund Fleisch auf jedem Dorfmarkt erworben werden.

Abgesehen von solchen populären Veröffentlichungen wurde das ungarische Druckwesen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts von verschiedenen Bibelausgaben, Liederbüchern, diversen religiösen Werken in ungarischer Sprache, von lateinischen Klassikern sowie von juristischen Büchern sowohl in lateinischer als auch ungarischer Sprache dominiert.

Nach dem Ende der Türkenkriege, die anderthalb Jahrhunderte fortgesetzte Kriegszustande in Ungarn bedeutet hatten, entstanden neue, öffentliche (das heißt nicht kirchliche) Schulen, und im Zusammenhang mit ihnen erschienen zum Ende des 18. Jahrhunderts die ersten "wirklichen" Buchhändler. Ihr Warenangebot bestand, abgesehen von vor Ort gedruckten ungarischen und lateinischen Sprachbüchern, zum Großteil aus französischen und deutschen Veröffentlichungen, da das Deutsche unter den Gebildeten weit verbreitet war. Diese Buchhändler operierten zunächst außerhalb der traditionellen Formen des Handels, die von den Gilden und Zünften dominiert waren, doch im Jahre 1795 gründeten sie die erste Buchhändlervereinigung in Europa, indem sie sich selbst die Vereinigung der Buchverkäufer der Stadt Pest nannten. Ihr erster Vorsitzender war István Kiss. (Dreißig Jahre später war es ein ungarischer Buchhändler, ein gewisser Károly Keresztély Horváth, auf dessen Initiative auf der Leipziger Messe das zurückging, woraus dann der Börsen-verein werden sollte.)

Zum Ende des 18. Jahrhunderts hin, als sich die Alphabetisierung auch bei den niederen Schichten verbreitete und die nationalen Bewegungen sich zu regen begannen, nahm der Bedarf an Büchern in ungarischer Sprache dermaßen schnell zu, daß die Buchhändler der Stadt Pest auch selbst zu veröffentlichen begannen, wodurch sie eine ganze Ära der ungarischen Literatur unterstützten, in der große nationale Klassiker des 19. Jahrhunderts entstanden. Viele dieser Firmen, die in der ersten Generation Buchhändler gewesen waren und nun zu Herausgebern wurden, überlebten bis in die 1870er Jahre. Lampel, Emich, Wodianer, Trattner, Hartleben und Co. waren nicht nur die Herausgeber der ungarischen literarischen Romantik, sondern auch die der ersten Wörterbücher, Enzyklopädien und gelehrter sowie technischer Werke.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts entstand Hand in Hand mit dem spektakulären Aufschwung des Kapitalismus eine neue Art von hart kalkulierenden Handelsgesellschaften, die ein neues Publikum anvisierten: das Stadtbürgertum und die alphabetisierten städtischen Massen. Dieses neue Zeitalter war charakterisiert von großen Auflagen populärer Literatur und billigen Paperbacks, durch attraktive Reihen von "Sämtlichen Werken" und, mit noch weitreichenderer Bedeutung, durch das Einströmen von Übersetzungen zeitgenössischer Weltliteratur, die so für ein Lesepublikum zugänglich gemacht werden konnte, das darauf brannte, neue Gedanken zum Lebensstil und zur geistigen und politischen Modernisierung des Landes kennenzulernen. Die außerordentlich hohe Zahl von Übersetzungen war für das ungarische Buchwesen schon immer charakteristisch. Zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war Ungarn zu einem der führenden "Buchländer" Europas geworden und wurde als eines der ersten Länder in die International Publishers` Association aufgenommen. Im Jahre 1913 tagte in Budapest dann auch eine internationale Konferenz von Herausgebern.

Im Laufe der Zwischenkriegszeit veränderte sich die Situation kaum, bis auf das Erscheinen von Groschenromanen - von "gelben Romanen" wie man sie damals in Ungarn nannte. Der Handel wurde von einer relativ niedrigen Zahl prestigestarker Verlage wie Athenaeum, die Brüder Révai, Pallas, Singer & Wolfner u.a. dominiert, die alle in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gegründet worden waren. Außerdem wirkten noch einige mittlere Firmen (Cserépfalvy, Dante) und viele kleine Herausgeber, von denen einige noch immer Buchhändler waren und die große Mehrheit der Ausgaben in kleinen Auflagen herausbrachten. Insgesamt gesehen war der Buchdruck und der Buchhandel, abgesehen von Belletristik, Handbüchern und Gesellschafts-wissenschaften, immer noch ein kleiner Industriezweig, der praktisch über keine Veröffentlichungen im künstlerischen Bereich und nur sehr wenige im Bereich der Musik verfügte, um von technischen und Sachbüchern ganz zu schweigen.

Die kommunistische Ära 1948-1989

Die Verwüstungen des zweiten Weltkrieges und die kommunistische Machtübernahme veränderten die Lage in Ungarn quasi über Nacht. Im Jahre 1948 wurden alle Verlagshäuser, Buchhandlungen und Druckereien verstaatlicht und "zuverlässige" Kommunisten an ihre Spitze gestellt, die allerdings in der überwiegenden Mehrheit der Fälle über keinerlei Erfahrungen im Verlags- und Druckwesen verfügten. Ein neues Urheberrechtsgesetz nahm den Verlagen ihre bisherigen Rechte (alle Rechte fielen nunmehr nach jeder einzelnen Auflage an den Autor zurück). Während kleinere Verlage geschlossen wurden, faßte man die größeren Firmen zu noch größeren "sozialistischen" Betrieben zusammen, wobei jedem ein strengstens vorgegebenes Betätigungsfeld zukam: ein Verlag für die Kinder- und Jugendbücher, einer für technische Bücher, einer für die wissenschaftlichen Publikationen, einer für juristische und ökonomische Themen, einer für ungarische Gegenwartspoesie und -literatur, einer für marxistische Literatur, einer für Lehrbücher, einer für sowjetische Autoren usw. Auf diese Weise versuchte man eine "ideale" Welt zu erschaffen, in der es keinen Wettbewerb geben sollte, Bücher wurden subventioniert, damit sie für die Massen erschwinglich waren, und, wenn es aus politischen oder erzieherischen Gründen als "wünschenswert" erschien, in bis dahin unbekannten Auflagenhöhen publiziert. Über den "sozialistischen" Handel wachte die Buchabteilung des Kultusministeriums (Generaldirektorat für das Verlagswesen genannt) als Zensor und als Herrscher über die Versorgung mit Druckereizubehör und Papier - an denen es immer mangelte, und nur teilweise wegen des großen Anstiegs der Produktion. Die oberste Macht lag in den Händen der kommunistischen Partei und ihrer allmächtigen Kontrollkörperschaft, der Buchkommission. Von ihr wurden nicht nur die langen Listen der unerwünschten Autoren und Werke zusammengestellt (und von Zeit zu Zeit auf eine geradezu beklemmende Art an Orwells Visionen erinnernde Weise auf den neuesten Stand gebracht), doch die Kommission stellte auch ebenso lange Listen wünschenswerter (was soviel hieß wie: obligatorischer) Autoren und Themen zusammen, die zu den Verlagen "runtergeschickt" wurden - zusammen mit den Jahresaufstellungen über die erwarteten Themen und die Produktionszahlen.

Das Verlagswesen hatte in keinerlei Sinne des Wortes irgend etwas mit Geschäft zu tun, sondern war vielmehr eine Art durch die Regierung bezahlte Dienstleistung mit der Zielsetzung der "Erziehung der Massen". Unter solchen Bedingungen nahm die Buchproduktion enorm zu, riesige Vertriebsnetze wurden ins Leben gerufen und mehr Leute wurden im Handel beschäftigt als jemals zuvor. Im Laufe der Jahrzehnte begann das Regime aber aufzuweichen und es war gezwungen, der Intelligenz ein größeres Maß an intellektueller Freiheit einzuräumen. Nach einiger Zeit profitierten nicht nur ideologisch besetzte Bücher von diesem System, sondern die beinahe unbegrenzten finanziellen Möglichkeiten erlaubten es, die bis dahin unbedeutende Veröffentlichung wissenschaftlicher Werke zu fördern, es entstanden bedeutende Nachschlagewerke, teure textkritische Ausgaben der Klassiker der Literatur, die literarische Übersetzung wurde verfeinert - betrieben unter anderem auch von den besten Dichtern und Schriftstellern Ungarns, deren eigene Werke unter Veröffentlichungsverbot fielen, so daß sie keine andere Einkommensquellen hatten als die Übersetzung -, insgesamt wuchs die Veröffentlichung von wissenschaftlichen, medizinischen, Kunst- und Fremdsprachenbüchern enorm an. Verschärft durch die Existenz der wachen Zensur entstand ein neuer verlegerischer Professionalismus, indem die Herausgeber häufig selber herausragende Intellektuelle waren, die bei den Verlagshäusern Schutz gefunden hatten.

Insgesamt "erfreute" sich das Verlagswesen als ein ideologisch sensibler Bereich der speziellen Aufmerksamkeit der Staatsmacht, was wiederum auch bedeutete, daß alle Veränderungen in den höheren Sphären der Politik sich unmittelbar danach in der Veröffentlichungspolitik widerspiegelten. Doch das Regime machte in den vierzig Jahren seiner Existenz, obwohl das System an sich unverändert blieb, wichtige Modifizierungen durch: die ideologische Kontrolle wurde schrittweise gelockert, die Zensur wurde immer großzügiger gehandhabt, ökonomische Schwierigkeiten führten zu sinkenden Subventionen, was um die Mitte der siebziger Jahre die Verleger dazu zwang, in den Kategorien von Markt und Profit zu denken. In den 1980er Jahren verfügte Ungarn über ein Verlagswesen, das technisch gut ausgestattet, intellektuell stark, prestigeträchtig und vollkommen in der Lage war, alle Lesebedürfnisse des Publikums zu befriedigen, das sich über den kurz bevorstehenden Niedergang des Kommunismus im Klaren war.

Die Gesamttätigkeit des ungarischen Verlagswesens seit den End-siebzigern erklärt auch den Umstand, warum es (im Gegensatz zu den Zeitschriften und Periodika) nie viele Samisdat-Buchausgaben gab, und daß sie - wenn sie schließlich doch in großer Zahl und Auflage erschienen - kaum von den "offiziellen" Publikationen zu unterscheiden waren.

Zum Schutz der Autorenrechte wurde 1955 eine halboffizielle Agentur ins Leben gerufen. Heute heißt sie Artisjus und ist ein Rechtsbüro, eine "Sammelgesellschaft" und eine Rechteagentur hauptsächlich tätig in den Bereichen Musik, Literatur, Theater und Computerprogramme. Sie vertrat die ungarischen Autoren im In- und Ausland und vermittelte zwischen ausländischen Literaturagenturen und -verlegern und den ungarischen Verlagen per Kraft des Gesetzes und besaß auch Aufgaben der Zensur. Heute existieren bereits mehrere andere Literaturagenturen, jedoch ist Artisjus‘s (ein Mitglied der WIPO) Tätigkeit zu verdanken, daß Raubdrucke in Ungarn kein ernsthaftes Problem darstellen. Ungarn gehört schon seit Jahrzehnten zu den Mitunterzeichnern der Berner Konvention.

Der zentralisierte, streng kontrollierte und - wenn es politisch notwendig erschien - subventionierte Export und Import von Büchern lag in den Händen einer gigantischen Gesellschaft namens Kultúra. Ihres Monopols beraubt ging die personell überbesetzte, schwerfällige Organisation unter den neuen Bedingungen schon bald bankrott und ihre Funktion übernahmen eine Reihe kleiner Firmen. Zuverlässige Statistiken stehen nicht zur Verfügung, aber seit die ungarische Währung frei konvertierbar geworden ist, hat der Import westlicher Bücher immens zugenommen - der Zuwachs war besonders dynamisch im Bereich der englischen Sprachunterrichtsmaterialien, die in den staatlichen Schulen benutzt werden -, während der Export der ungarischen Verlage nach dem Wegfallen des "sozialistischen Marktes" und ohne Subventionen auf bedauernswerte Weise zurückgefallen ist.

Der Ungarische Schriftstellerverband, einst die einzige und streng offizielle Organisation zur Kontrolle der Autoren, wurde Anfang der achtziger Jahre nicht nur eine Festung der Nichtzustimmung und des Protestes, sondern auch zu einem Zentrum der sich formierenden politischen Opposition und wurde so zu einer Art inoffiziellem Parlament, dessen führende Gestalten in der zum Ende der Diktatur führenden Bewegung eine herausragende Rolle spielten, unter ihnen der Dramatiker, Prosaautor und Übersetzer aus dem Englischen, Árpád Göncz, der der erste frei gewählte Präsident der Republik Ungarn ist. Unter den Bedingungen der parlamentarischen Demokratie verlor der Schriftstellerverband schnell seine herausragende politische Bedeutung, viele Schriftsteller haben sich von der Politik zurückgezogen, doch trotzdem ist er immer noch die größte und bedeutendste Organisation von Autoren mit einer Mitgliedschaft, die das ganze Spektrum des literarischen Lebens vertritt und sich derzeit eine neue Rolle als eine Art Gewerkschaft zu definieren versucht. Einige der auch international bekannteren ungarischen Schriftsteller sind auch weiterhin in der politischen Arena verblieben und äußern sich von Zeit zu Zeit zu politischen Themen, so etwa der Schriftsteller und Essayist György Konrád, der Dichter Sándor Csoóri und der Dramatiker István Csurka.

Das Verlagswesen von 1989 bis 1996

Der Zusammenbruch des Kommunismus fegte die alten Mechanismen von Kontrolle und Unterstützung hinweg. Die Zensur verschwand und man konnte lesen und veröffentlichen, was man wollte, wobei rückblickend das genaue Datum des Neuanfangs gar nicht exakt bestimmt werden kann. Die Partei gab ihre ausschließliche Macht im Jahre 1989 mit der Ermöglichung von freien Wahlen im Jahre 1990 auf, doch einige Verlage hatten sich bereits zuvor über die ehemaligen Spielregeln hinweggesetzt: Szabad Tér brachte 1987 und 1989 zwei inzwischen berühmt gewordene Anthologien von russischen Dissidenten heraus, während der Verlag Európa Arthur Koestlers Sonnenfinsternis und Boris Pasternaks Doktor Schiwago im Jahre 1988 und ein Jahr später den Roman 1984 von George Orwell veröffentlichte, alle in hervorragenden Übersetzungen, was bedeutete, daß die Arbeit an ihnen bereits viel früher begonnen haben mußte.

Anfang 1989 kündigte eine kurze offizielle Mitteilung in der Presse an, das jedwede legal registrierte Gesellschaft oder Organisation ab nun die Möglichkeit habe, ohne Erlaubnis oder billigende Zustimmung von oben eine verlegerische Tätigkeit auszuüben. Nach einem halben Jahrhundert war damit die Freiheit der Presse wieder hergestellt. In den hierauf folgenden emotionell bewegten und berauschten Monaten und Jahren wurde all das veröffentlicht und in hohen Auflagen verkauft, was seit 1948 nicht publiziert werden konnte. Weder die "offiziellen" Verlagshäuser noch die "offiziellen" Vertriebssysteme konnten der Nachfrage nachkommen. Hunderte neuer Verlage entstanden und Bücher wurden von Straßenhändlern statt von Buchläden verkauft. Diese Veröffentlichungsflut ließ dann natürlich relativ schnell nach. Die meisten der neuen Verlage und Buchhändler, zumeist enthusiastische Intellektuelle, verschwanden auch wieder. Die früher verbotene Literatur wurde dann von Trivialliteratur abgelöst.

Eine der charakteristischsten Faktoren der postkommunistischen Krise der Buchindustrie war der Zusammenbruch des Vertriebssystems. In der kommunistischen Zeit wurde sowohl der Einzel- als auch der Großhandel von drei großen staatlichen Gesellschaften beliefert, die aber alle drei in den Jahren 1990-92 bankrott gingen, da sie Schulden gemacht hatten und außerdem auf einem großen Lager unverkäuflicher und nicht verkaufter Bücher sitzen-geblieben und im Wettbewerb mit den privaten und den Straßenverkäufern unterlegen waren. So geriet die Distribution in einen desolaten Zustand. Die traditionelle Aufteilung in Groß- und Einzelhandel verschwand und es entstand ein eher chaotisches System des Vertriebs. Die bekannte Kette zwischen Verleger, Großhandel und Leser verschwand. Sowohl der Groß- als auch der Einzelhandel begann Bücher zurückzuweisen, die nur über ein niedriges Verkaufspotential verfügten, oder sie übernahmen nur geringe Anteile von Auflagen und steigerten ihre Gewinnspanne beträchtlich. Diese neue Situation bedeutete einen erhöhten finanziellen Druck auf die Verlage, da die kleinen Vertreiber zu späten Zahlungen tendierten, was in einer Ökonomie mit hoher Inflation eine beträchtliche finanzielle Belastung darstellte.

Der ernsthafteste Schlag traf den Buchhandel mit dem Erlaß über die Vorprivatisierung aus dem Jahre 1990, nach dem beinahe zwei Drittel aller Buchläden ohne Ausnahme zur Privatisierung freigegeben wurden. Die Mehrheit der in offener Auktion verkauften Läden ging für den Buchhandel für immer verloren. Dörfer und in einigen Fällen ganze Städte blieben ohne eine einzige Buchhandlung. Die, die erhalten geblieben waren, mußten den Wettbewerb mit Straßenhändlern aufnehmen, die überall im Lande wie die Pilze aus der Erde schossen, ihre Gestelle auf öffentlichen Plätzen aufstellten, in U-Bahn-Stationen und Unterführungen, zumeist mit Bestsellern bestückt, halblegal tätig, meistens weder Steuern oder gar eine Gebühr für die Benutzung öffentlicher Plätze entrichtend. Auf diese Weise mußte das, was vom alten Großhandel übriggeblieben war und sich neu formiert hatte, den Wettbewerb mit den neuen, regional fundierten, meistens mittelgroßen oder kleinen "Halbgroßhandelsnetzen" aufnehmen, die dubiosen Ursprungs waren und sich fast ausschließlich auf den Vertrieb von Bestsellern konzentrierten.

Die Privatisierung der großen staatlichen Verlagshäuser war auch nach 1990 eine wichtige Angelegenheit. Die Manager und die Belegschaften dieser Firmen betrachteten ihre nur nominelle Eigentümerschaft an den Firmen als eine Last und gingen davon aus, daß die schnelle Privatisierung das beste für die Firmen und auch den Markt wäre. Allerdings verfügte die erste nach-kommunistische Regierung über keine klare Strategie in dieser Frage. Als es dann im Jahre 1993 zur ersten Privatisierung kam, hatte sich die Lage der Verleger verschlechtert, die finanziellen Probleme hatten sich verschärft und potentielle Investoren waren verschreckt worden. Die wichtigste Frage der Privatisierung war die nach der Einschätzung der Möglichkeiten, die in den einzelnen Verlagen steckten. Das gültige Urheberrechtsgesetz hatte über einen langen Zeitraum den Autor gegenüber dem Verleger bevorzugt. Der Autor konnte eine Zahl von Einschränkungen gegenüber dem Verleger aussprechen, wodurch dessen Möglichkeiten zur kommerziellen Nutzung des Werkes erheblich limitiert wurden. Ohne Autorenrechten, die ja nach jeder Ausgabe auf den Verfasser zurückfielen, waren die staatlichen Verlagshäuser praktisch wertlos und Rechte konnten nicht als besonderer Wert in die Privatisierung eingebracht werden. Auch das entmutigte potentielle Investoren erheblich. Schließlich wurden mehrere dieser Firmen von ausländischen Unternehmungen erworben, einige gingen an ungarische Käufer, von denen manche sich auflösen mußten, während die übriggebliebenen von der Regierungsinitiative profitierten, nach der das Management und die Belegschaft mit Hilfe günstiger Bankkredite die Firmen selber kaufen konnten. Das bedeutete zugleich aber auch, daß es in diesen Fällen keine Kapitalspritzen gab, obwohl diese in einer Zeit der schnellen ökonomischen Veränderung höchst notwendig gewesen wären.

Ein anderer Faktor der zur nachkommunistischen Krise des Buchhandels in Ungarn beitrug, war das System der Besteuerung. Der achtzigprozentige Steuernachlaß auf die Gewinne der Verlage und Händler, der mit eine Ursache für den Boom der Jahre 1989 und 1990 war, wurde im Jahre 1990 zurückgenommen. 1993 belastete die Einführung der Mehrwertsteuer für Bücher die Verlage noch weiter. 6 Prozent Mehrwertsteuer wurde für die Bücher festgelegt, was dann später im Jahre 1994 auf 10 Prozent und ein Jahr später, 1995, sogar noch auf 12 Prozent angehoben wurde. Hinzu kommt noch, daß in Ungarn die Besteuerung der Firmen und die Sozialabgaben sehr hoch sind, vergleichbar etwa mit denen der skandinavischen Länder.

Die einzige Form, die die nachkommunistischen Regierungen zur Unterstützung der an staatliche Subventionen gewohnten Verlage fanden, war die Errichtung von Fonds für die Veröffentlichung von kulturell wertvollen Büchern. Einer von ihnen, die Stiftung Ungarisches Buch, erhält jährliche Summen aus dem Budget, während der Nationale Kulturfonds sein Kapital aus den Einnahmen einer Steuer erhält, die auf alle kulturellen Produkte erhoben wird.

Diese Steuer war im Jahre 1993 eingeführt worden als eine durchschnittlich einprozentige Steuer auf die Preise von Büchern, Theater- und Kinokarten, verliehene Videos, Eintrittskarten in Museen, TV-Geräte, usw. Auch private Stiftungen haben die Buchindustrie unterstützt, die wichtigste von ihnen ist die Soros Stiftung.

Das Verlagswesen heute, seit 1996

Die widersprüchliche Situation der Buchindustrie in den ersten sechs von acht Jahren des sogenannten "Systemwechsels" (wie die Wende bzw. die Samtene Revolution in Ungarn genannt wird) hat sich seit 1996 auf dramatische Weise verändert. Nicht ohne Zusammenhang mit einer Veränderung der Regierungspolitik hinsichtlich der Erschaffung von Fonds für einzelne Segmente der Buchproduktion und des Buchvertriebs scheint das Verlagswesen in Ungarn sich erholt zu haben. Ja, es ist sogar zum führenden Zweig des ungarischen kulturellen Lebens geworden. Zwei der einst großen staatlichen Vertriebe wurden schließlich privatisiert, dementsprechend umstrukturiert und verschlankt, um den modernen Anforderungen gerecht zu werden. Als Folge begannen neue, große und gut ausgestattete Buchläden zu öffnen, und ihre Zahl erreichte (nach dem traurigen Rückgang im Jahre 1990) 1997 die Marke von 500 Läden. Im gleichen Jahr nahm der Umsatz um 25 Prozent zu, damit das Maß der Inflation weit übertreffend. Es wurden (und werden auch derzeit) etwa 10.000 Titel pro Jahr veröffentlicht und die Zahl der verkauften Exemplare beläuft sich auf etwa 50 Millionen. Obwohl diese letztere Zahl weit unter der aus dem Jahre 1989 liegt, so zeigt sie doch, daß die Ungarn immer noch leidenschaftliche Leser sind - Tatsache ist, daß in ganz Europa nur in zwei skandinavischen Ländern mehr Bücher pro Kopf der Einwohner verkauft werden als in Ungarn.

Nach den Jahren der Unsicherheit und der Konfusion scheint der Markt langsam seine endgültigen Umrisse zu gewinnen. Den Löwenanteil machen fünfzehn große Verlage unter sich aus, während der Rest unter sechzig weiteren aufgeteilt wird. Darüber hinaus gibt es noch 200 bis 300 kleine Firmen, die normalerweise jährlich vier oder fünf Titel veröffentlichen. Die anfängliche Angst vor den großen internationalen "Multis" hat sich als unbegründet erwiesen. Bertelsmann, Readers´ Digest, Julius Springer, Axel Springer, Wolters Kluwer haben alle ihre Rechnung aufgehen gesehen und bleiben im Lande, jedoch beläuft sich ihr gesamter Anteil am Markt auf unter dreißig Prozent. Sie haben allerdings mitgeholfen, die Regeln des anständigen Handels in einer Branche durchzusetzen, die viel Unsauberes am Neubeginn einer Ära erleben mußte, als viele meinten, alles sei erlaubt.

Heute können ungarische Verlage Autorenrechte ohne Zeitbegrenzung kaufen. Die Dauer des Schutzes der Autorenrechte wird – entsprechend des Direktivs 93/98 des EuropaRats – auf 70 Jahre verlängert, gezählt nach dem Ende des Jahres indem der Autor starb.

Die Zukunft des ungarischen Verlagswesens und Buchhandels zeichnet sich langsam ab und ihre Erfolge beginnen international Anerkennung zu finden. Im Frühjahr 1998 war die Vereinigung Ungarischer Verlage und Buchhändler (MKKE) die erste osteuropäische Organisation dieser Art, die von zwei führenden Verbänden in ihre Reihen aufgenommen wurde, nämlich vom Europäischen Verlegerverband und dem Europäischen Buchhändlerverband. Die ungarische Vereinigung mit ihrer zweihundertjährigen Geschichte veranstaltet seit 1929 jährlich die Buchwoche, das wichtigste jährliche Buchereignis in Ungarn, und ist seit 1994, gemeinsam mit der Frankfurter Buchmesse, der Veranstalter des national und regional bedeutenden Internationalen Budapester Buchfestivals.

Ungarn ist das erste Land aus Osteuropa, das zum Themenschwerpunkt der Frankfurter Buchmesse gewählt worden ist - was, abgesehen von den offensichtlichen Gründen aus der nahen Vergangenheit, zweifellos mit den engen historischen Bindungen zwischen ungarischem und deutschem Verlagswesen zu tun hat. Einer der Gründer des Börsenvereins war ein Ungar, während der organisierte Buchverkauf von deutschen Händlern in Ungarn eingeführt worden war. Zu Beginn der 1980er Jahre bot der ungarische Handel dem deutschen Verlagswesen gleich bei zwei Gelegenheiten die Möglichkeit, die eigene Produktion vorzustellen und mehrere tausend Titel einem interessierten ungarischen Publikum zu präsentieren.

Frankfurt ´99 ist für die ungarischen Verleger, Buchhändler und Literaten eine große Möglichkeit, den Stand und die Qualität der ungarischen Buchindustrie in einem der führenden Länder der Europäischen Union vorzustellen. Wir wünschen Ihnen einen unterhaltsamen und informativen Streifzug im Schwerpunkt-Pavillon Ungarn.

 

 

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